Der Wildfräuleinstein
An den Bergabhängen östlich von Hinterstein, gegen den oberen Berg und den Bschießer zu, befindet sich in einer Felswand eine Grotte, die durch eine Art Querwand in zwei Abteilungen geschieden ist, jedoch so, dass beide durch eine Öffnung miteinander in Verbindung stehen.
Das ist der Wildfräuleinstein. Sein Name stammt aus uralten Zeiten als wilde Fräulein dort hausten. Sie wohnten in den beiden Höhlungen, wovon sie die eine als Stube, die andere als Gade (Schlafstube) benutzten. Wie viel es solcher Fräulein waren weiß man nicht, aber man weiß noch, dass einige folgende Namen hatten: Rezabell, Stutzamutz, Hurlahutsch, Ahudlamutz und Gertrudle.
Von den Berghoibern und Hirten wurden sie oft gesehen, waren den Leuten gut gesinnt, taten niemand Schaden und kamen bis zu den Häusern in Hinterstein herab. Sie müssen sich wohl mit dem Spinnen und Weben beschäftigt haben, denn sie besaßen eine stattliche Tuchbleiche, wo sie oft ihr Tuch ausbreiteten. Merkwürdigerweise war diese Bleiche an einer Stelle, wo weit und breit kein Wasser zu finden ist. Zuweilen traten sie mit den Talbewohnern in Verbindung und so kam es sogar vor, dass sie mit ihnen Ehebündnisse eingingen.
- So heiratete einmal ein wildes Fräulein einen Hindelanger, aber nur unter der ausdrücklichen Bedingung, dass niemand es beim Namen nennen dürfe, denn würde man bei der Namensgebung zufällig seinen wirklichen, rechtmäßigen Namen treffen, so müsste es sogleich fort. Beide lebten in glücklicher Ehe. Auch die Nachbarn hatten die Frau sehr lieb und schätzten sie wegen ihres Fleißes hoch. Einmal war sie nun beschäftigt das Kraut im Garten abzuwurmen, als ein Weib des Weges kam und ihr zurief: ,,0h mei liebs Gertrüdle, wie freasset die Würmle ding Krütle zämet?“ Da wurde sie leichenblass, fing an zu weinen und zu jammern und klagte gar bitter, dass sie nun nicht mehr bleiben dürfe. Da das Weib ihren Namen genannt hatte, verschwand sie und kam nie wieder.
- Zu einer anderen Zeit geschah es, dass sich der Hintersteiner Geißhirt beim Hüten viel in der Nähe des Wildfräuleinsteins aufhielt. Er saß täglich stundenlang auf einem Felsblock, von wo er das Tal und seine Geißen gut überblicken konnte. Zur Kurzweil befasste er sich mit Holzschnitzen. Wenn er dann des anderen Tags wiederkam, fiel ihm auf, dass stets alle Holzabfälle und Späne von seinem steinernen Tisch sauber abgekehrt waren, wusste aber nicht wie das zuging. Wie er nun wieder einmal beim "Schnipfle" auf dem Stein saß, bemerkte er überrascht eines der wilden Fräulein, das ihm schon lange verstohlen zugeschaut haben muss. Es zeigte sich freundlich gegen ihn und ließ sich ins Gespräch mit ihm ein.
Da erfuhr er, dass sie es war, die ihm täglich den Tisch so sauber gemacht hatte. Er fand immer mehr Gefallen an ihr und es dauerte nicht lange, so war das wilde Fräulein des Geißers Weib. Beide zogen ins Lechtal und ließen sich dort nieder.